Soundart after Ludwig van
Fumio Yasuda (Komposition) und Stefan Winter (Klangkunst) konzipieren nach Ludwig van eine Trilogie in den Klangfarben „Infinite Blue“, „Deep Green“ und „Red Zone“. Unter dem Dirigat von Aarón Zapico spielen Ferhan & Ferzan Önder (Piano), Joachim Badenhorst (Klarinette), Gareth Davis (Bassklarinette), Kelvin Hawthorne und Klaus-Peter Werani (Bratsche). Mathis Nitschke und Stefan Winter schaffen dazu einen Dialog mit der Erzählkraft der Geräusche.
„The Ninth Wave“ ist eine neue Komposition aus Versatzstücken, Klängen und Geräuschen über die Schönheit der Natur und die Tragödie des Menschen. Die Elemente Musik und Geräuschkunst entstehen unabhängig voneinander, um zusammen eine neuen Einheit einzugehen. Neun einzelne, neun Minuten lange, in sich abgeschlossene, jedoch in hohem Maße aufeinander bezogene Sätze bilden eine Trilogie mit drei Hauptteilen.
Beethovensche Musik adaptiert von Fumio Yasuda für ein handverlesenes Ensemble wirkt zusammen mit Geräuschen aus der Natur. Die Geräusche sind jedoch nicht konkret in der Umwelt aufgenommen, sondern reine Illusion, jeder Klang ist Animation, jeder Klang wird mit Händen, Füssen, Bürsten, Besen, Sandpapier, Schaumstoff, Stahlwolle, Leinwänden, Eisenschrott, Ketten, Bremstrommeln, Gießkannen, Schleifblöcke, Sirenen, Vogelpfeifen, Windmaschine, Heulschläuche, Karfreitagsratschen, etc. erzeugt.
„The Ninth Wave“ hat einen konkreten Auslöser in der jüngeren Vergangenheit: die Tragödie am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa.
Naoki Hayashida [ebravo.jp/harusai/archives/984] interviewt Stefan Winter
Wer wählte die Beethoven-Stücke aus, die als Fragmente in „The Ninth Wave“ verwendet werden? Welche Aspekte der Musik Beethovens ziehen Sie am meisten an?
Zusammen mit dem Komponisten Fumio Yasuda habe ich die Auswahl bestimmt, für mich war es wichtig „The Ninth Wave“ mit einer Adaption von "Meeresstille und glückliche Fahrt, op.112" zu eröffnen. Es geht um die Ruhe vor dem Sturm, um den Stillstand, kein Wind regt sich. Goethe schreibt „Todesstille fürchterlich!“ Weitere Schlüsselwerke im Laufe von „The Ninth Wave“ sind das Streichquartett Nr. 14, op. 131 und die Große Fuge, op. 134, sowie der Gefangenenchor aus Fidelio und die „Ode an die Freude“, die zur Europahymne auserkoren wird: Ausdruck für Freiheit, Frieden und Solidarität?
Beethovens Schaffen ist von den gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Zeit geprägt. Er ist von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erfüllt. Aber seine Musik wird oft missbraucht.Beethoven wird immer und immer wieder ungewollt zum musikalischen Sprachrohr von Gewaltherrschern, obwohl sein Werk vom Geist der Aufklärung und der Französischen Revolution erfüllt ist.
Beethovens Musik übt eine große emotionale Wirkung auf die Hörer aus, die sich kommerziell ausnutzen läßt, doch dies ist kein Entscheidungsmerkmal für mich, seit jeher habe ich mich der Musikindustrie verweigert. In seiner Musik steckt die Aufklärung, der Schlüssel unserer Zukunft. Nur Aufklärung und Gleichberechtigung können die Selbstverstümmelung und Vernichtung der Menschheit verhindern.
Was ist Ihre Absicht, ein solches Werk aufzuführen, das die Tragödie der europäischen Flüchtlinge mit Beethoven verbindet?
Wir sind im Zeitalter des Menschen angekommen. Fast unmerklich, unendlich langsam, jedoch unaufhaltsam wandelt seit Urbeginn die Evolution das Leben auf Erden, doch seit Ende des 18. Jahrhunderts — zu Lebzeiten Beethovens — wirkt die Industrialisierung, wie ein teuflischer Katalysator, der zur Deformierung der Natur und zur Selbstzerstörung ausartet. Wir Menschen verändern die Umwelt und beeinflussen die Natur. Beethoven war nicht nur den Idealen der französischen Revolution verbunden, sondern auch der Natur.
Schuld an dieser Arbeit trägt jedoch nicht nur Beethoven allein, sondern auch Théodore Géricault und sein Bild „Das Floß der Medusa“. Schuld tragen Dante und seine „Göttliche Komödie", aber auch Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ [der kleine Mensch und die unendliche Natur] und … Katsushika Hokusais „Die große Welle vor Kanagawa“. Ich setze mich mit Kunstwerken auseinander, um einen Einblick in das Innere der Menschheit zu erfahren. Diese Kompositionen, Bilder und Geschichten arbeiten wiederum in mir, im Grunde genommen, geht es immer wieder um eine neue Befragung des Gleichen. Kunst bietet die Chance die Menschheit zu hinterfragen.
„The Ninth Wave“ beschäftigt sich mit dem dem Krieg Mensch gegen Natur, Mensch gegen Mensch und generell dem menschlichen Gebaren mit seinen Auswirkungen. Die Flüchtenden auf der Suche nach einem Lebensraum sterben in der Sahara, ertrinken im Mittelmeer, verenden in Lagern in Libyen, Malaysia, Bangladesch… Frauen werden vergewaltigt, Kinder verhungern… Die Zerstörung der Natur, der Neokolonialismus und die dadurch in den ausgenutzten Ländern verursachte Not gehören zu den realen Phänomen und Problemen unserer Zeit. Dies ist ein globales Problem, das uns alle angeht.
Ich weiß, dass der Lärm, den Sie erzeugen, mit analogen Methoden und nicht mit moderner Computertechnologie erzeugt wird. Bitte teilen Sie uns Ihre Philosophie über Lärm mit. Wie sollte Rauschen in der Klangkunst sein?
Die Kunst der Geräusche übt seit jeher eine große Faszination auf mich aus. Bereits in meinem ersten Aufnahmewerk „Die kleine Trompete“ aus dem Jahr 1986 spielen Umweltgeräusche die Hauptrolle.
Für „The Ninth Wave“ werden alle Geräusche mit den Händen erzeugt. Ich nehme seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt Meereswellen auf. Jede Küste, jeder Wellengang, jede Gischt klingt anders. Ich liebe es, ans Meer zu gehen, um das Rauschen der immer wiederkehrenden Wellen zu erfahren und mit dem Mikrophon einzufangen, doch für „The Ninth Wave“ möchte ich, dass die Bewegung von Händen über Kleider, Körper und Flächen ein Rauschen erzeugt. Die Kraft, der Schwung, der Druck der Hände bestimmt die Klanghöhe der Wellengeräusche, wie auch die Zartheit oder auch Aggressivität. Das, was wir die Welt der Geräusche nennen, kann genauso gut als die Welt unseres Unbewussten bezeichnet werden. Für mich sind Geräusche Stimmen aus dem Inneren, die Erinnerungen wachrufen, die möglicherweise tief im Unterbewusstsein vergraben sind.
Beethovens „Ode an die Freude“ scheint mehr zu sein als nur ein leicht verständlicher Slogan. Es scheint eine tiefere Bedeutung zu haben, die sich nicht nur in dem Wort „universelle Bruderschaft“ verdichtet. Was denken Sie über die Bedeutung von „Ode an die Freude“?
Dieses enthusiastische Gedicht ist Ausdruck des Glücksgefühls, der Liebe, eine Ode für die Freiheit, den Frieden und die Solidarität, aber auch für die Natur.
Der Mensch ist zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren der Erde und Umwelt geworden. Wir sind an einem Scheideweg angekommen, Dante würde sagen, wir sind vom Weg abgekommen und befinden uns in einem tiefen Wald. Wohin geht unser Weg? In die Aggression, Konfrontation, Ausgrenzung, Unterdrückung und Vernichtung? Oder respektieren wir den Weg der Aufklärung, der Chancengleichheit, der Gleichberechtigung, der Toleranz?
Ihre Arbeit ist durch eine genreübergreifende und einzigartige Besetzung von Musikern gekennzeichnet. Was haben „die Musiker, mit denen Sie zusammenarbeiten wollen“ gemeinsam?
Mich fasziniert der wahrscheinlich törichte Versuch Körper und Seele in Einklang zu bringen, die unmögliche Vereinigung von Verlangen und Vernunft, die nie erreicht werden kann, außer im Paradies, im Elysium, auf der Insel der Seligen.
Doch danach suchen wir, darum begeben wir uns auf eine Odyssee. Diese Suche zieht mich mit ungeheurer Kraft an. Vollkommende Virtuosität und Perfektion sind todlangweilig, es gibt nichts Aufregenderes als das Unvollkommene, als Fragen, die nicht beantwortet werden können, sondern in uns rumoren. Ich suche nach Musiker, die bewußt oder auch unbewußt, die Menschheit hinterfragen.
Mariko Takahashi und Stefan Winter haben die gemeinnützige Neue Klangkunst gegründet, um Klangkunstwerke zu initiieren, aufzuführen und umzusetzen.
„The Ninth Wave – Ode to Nature” ist das erste Aufnahmenwerk von Neue Klangkunst in Koproduktion mit Deutschlandfunk Kultur, Radiokunst.